Rubriken: Aufnahmeeinstellungen, Grundlagenwissen
Nach rechts belichten oder „Expose To The Right“
2015-01-26 Heutige Mehrfeldbelichtungsmesser scheuen helle Bildpartien wie der Teufel das Weihwasser. Das führt dazu, dass der Belichtungsspielraum (Dynamikumfang) einer Digitalkamera nicht optimal ausgenutzt wird. Das Bild wird tendenziell zu dunkel und verliert an Tonwertreichtum. Wer im Raw-Format aufzeichnet, kann diese Probleme leicht umgehen: Einfach das Foto heller aufnehmen, als es die Belichtungssteuerung vorsieht und anschließend die Belichtung im Raw-Konverter entsprechend reduzieren. Unser Fototipp zeigt, wie’s gemacht wird und erklärt, worin die Vorteile dieses Verfahrens liegen. (Martin Vieten)
Bei einem Dynamikumfang von 8 EV stehen für den Helligkeitsbereich von 87,5 % bis 100 % genau 50 % der Tonwerte zur Verfügung. Für den Helligkeitsbereich von 0 % bis 12,5% sind es dagegen weniger als ein Prozent der Tonwerte. [Foto: Martin Vieten]
Gerne wird vergessen, dass das erste Glied bei der Bilderfassung mit einer Digitalkamera ein analoges Bauteil ist: der Bildsensor. Er besteht aus einem Array an Photodioden, jede von ihnen erzeugt eine Spannung in Abhängigkeit von der einfallenden Lichtmenge. Der Empfindlichkeitsbereich zwischen der Ansprechschwelle und dem Übersteuern dieser Photodioden bestimmt den Dynamikumfang einer Kamera (also den Bereich zwischen den gerade durchgezeichneten Tiefen und Lichtern im Foto).
Die Umsetzung von Helligkeits- in Spannungswerte geschieht linear. Technisch gesehen verläuft die Tonwertkurve exakt diagonal – anders als beim Film, der eine weiche oder harte Gradation aufweisen kann. So ist also bei einer Digitalkamera einem Helligkeitswert exakt ein Spannungswert zugeordnet, die Spannungswerte haben alle einen identischen Abstand zueinander.
Die vom Bildsensor gelieferten Spannungswerte werden von einem nachgeschalteten AD-Wandler digitalisiert. Bei der üblichen Wortbreite von 12 Bit stehen also 4098 Tonwerte zur Verfügung. Soll darin nun ein Dynamikumfang von 8 EV (Lichtwert- oder Blendenstufen) gespeichert werden, stehen für jede Lichtwertstufe allerdings unterschiedlich viele Tonwerte zur Verfügung, nämlich:
- 0 EV (die hellsten Bildbereiche) = 2048 Tonwerte
- -1 EV = 1024 Tonwerte
- -2 EV = 512 Tonwerte
- -3 EV = 256 Tonwerte
- -4 EV= 128 Tonwerte
- -5 EV = 64 Tonwerte
- -6 EV = 32 Tonwerte
- -7 EV (die dunkelsten Bildbereich) = 16 Tonwerte
Das heißt: Je heller die Bildbereiche sind, desto feiner abgestuft können sie in der Raw-Datei gespeichert werden – für die hellsten Tonwertbereiche sind es 128 Mal mehr Abstufungen als für die dunkelsten Bildpartien. Daraus folgt aber auch: Wird der Belichtungsspielraum nicht möglichst weit ausgeschöpft, verliert man sofort überproportional viel an Feindynamik. Ist eine Aufnahme gegenüber dem Optimum nur um -1 EV unterbelichtet, nutzt sie bereits 50 Prozent der möglichen Feindynamik nicht mehr. (Dass dies in der Praxis kaum auffällt, ist das Werk der Bildprozessoren in den Kameras. Sie passen bei JPEG-Fotos die Gradationskurve derart an, dass der Dynamikumfang eben weiterhin möglichst gut ausgeschöpft wird.)
Bei kontrastarmen Motiven und flachem Licht tendieren viele Kameras dazu, Fotos technisch unterzubelichten. Das Histogramm zeigt nach rechts deutliche Reserven. [Foto: Martin Vieten]
Für ETTR belichten Sie ein Foto so, dass das Histogramm bis zum rechten Rand optimal ausgeschöpft wird. Bei trübem Wetter ist dazu eine Belichtungskorrektur von ca. 1,5 EV nötig. [Foto: Martin Vieten]
Im Raw-Konverter (hier Adobe Camera Raw) reduzieren Sie die Belichtung wieder soweit, dass die Bildhelligkeit insgesamt Ihren Wünschen entspricht. [Foto: Martin Vieten]
Der etwas größere Aufwand lohnt sich. Sie erhalten mit ETTR nach der Bearbeitung Fotos, die sich durch einen hohen Detail- und Tonwertreichtum in den dunkleren Bildbereichen auszeichnen. [Foto: Martin Vieten]
Aus der Tatsache, dass die hellste Lichtwertstufe 50 Prozent der Tonwerte einnimmt, hat der kanadische Landschaftsfotograf Michael Reichmann bereits vor über zehn Jahren eine Aufnahmetechnik entwickelt, die er „Expose To The Right“ (ETTR), zu Deutsch „nach rechts belichten“ nennt. Gemeint ist damit, die Belichtung derart zu erhöhen, dass das Histogramm möglichst nah an die rechte Grenze reicht und dann die Bildhelligkeit nachträglich im Raw-Konverter wieder zu reduzieren. Das bringt eine Reihe von Vorteilen: Zunächst einmal verlagern Sie das Histogramm in den Bereich, in dem die meisten Werte zur Verfügung stehen. Davon profitieren vor allem die Tiefen – wenn Sie nur um +1 EV reichlicher belichten, stehen für die untersten zwei Helligkeitsstufen statt 48 Tonwerte nunmehr 96 Tonwerte zur Verfügung; die (rechnerische) Tiefendynamik wird also glatt verdoppelt! Aber auch auf das Bildrauschen wirkt sich ETTR positiv aus. Sobald Sie das Bild im Raw-Konverter abdunkeln, nimmt Bildrauschen ab, insbesondere in den dunklen Bildpartien, wo es besonders lästig ist.
ETTR funktioniert ausschließlich bei Aufnahmen im Raw-Format und bringt vor allem bei kontrastarmen oder vorwiegend dunklen Motiven bessere Ergebnisse. Bei kontrastreichen Motiven wird die Belichtungssteuerung einer modernen Kamera sowieso das Histogramm bis an den rechten Rand ausschöpfen. Allerdings lohnt es sich auch hier unter Umständen, die Aufnahme gezielt überzubelichten – nämlich dann, wenn die hellsten Motivpartien nicht bildwichtig sind und gerne (etwas) ausfressen dürfen. Aber Achtung: Sind die Lichter einmal übersteuert, lassen sie sich nicht mehr wiederherstellen – auch das ist Folge der Digitaltechnik.
In der Praxis benötigen Sie für ETTR nichts anderes als eine Digitalkamera, die im Raw-Format aufzeichnen kann und ein halbwegs verlässliches Live-Histogramm liefert. Stellen Sie dann die Belichtungskorrektur so hoch, dass das Live-Histogramm genau bis an die rechte Begrenzung reicht. Hilfreich ist auch eine Clipping-Warnung bei der Wiedergabe. Springt sie in den Lichtern gerade nicht an, ist eine Aufnahme für ETTR perfekt belichtet. Bei kontrastarmen Motiven, etwa an einem trüben Wintertag, benötigen Sie eine Belichtungskorrektur von ca. +1,5 EV. Wer es ganz genau nimmt, verlässt sich nicht (auf das oft ungenaue) Live-Histogramm, sondern nimmt Belichtungsreihen auf. Am besten eignen sich fünf Aufnahmen mit einer Spreizung von 0,5 EV.
Im Raw-Konverter suchen Sie dann die Aufnahme aus der Belichtungsserie, bei der das Histogramm (dessen Anzeige hier wesentlich genauer ist als in der Kamera) exakt bis an den rechten Rand reicht. Schalten Sie auch die Clipping-Warnung ein und prüfen Sie, ob diese in bildwichtigen Bereichen anspringt. Falls ja, wählen Sie unter Umständen die nächstdunklere Aufnahme aus der Belichtungsreihe. Haben Sie das für Ihre Zwecke optimal belichtete Bild gefunden, reduzieren Sie die Belichtung im Raw-Konverter ganz nach Gusto – mehr ist nicht zu tun. Wenn Sie nun einen prüfenden Blick auf die dunkleren Bildbereiche werfen, werden Sie dort einen Tonwertreichtum erkennen, den man so von Aufnahmen bei flachem Licht nicht gewohnt ist.