Rubrik: Bildgestaltung

Auf den Standpunkt kommt es an ...

2002-06-03 Ein neuer Tipp mit Vergleichsfotos; dieses Mal geht es um die Frage: Welche Brennweite, lang oder kurz, ist für mein Motiv die geeignetste? Und weil Perspektive – der Hauptgrund für den gezielten Einsatz von Brennweiten – allein vom Standpunkt des Fotografen abhängt, steht dieser Begriff in der Überschrift.  (Jürgen Rautenberg)

Das Problem erläutern wir an zwei Bildpaaren und zwei Einzelbildern. Das erste Bild zeigt die Brücke eines Roll-on-roll-off-Transporters in einem sehr begrenzten Ausschnitt. Das zweite lässt erkennen, wie Roll-on-roll-off vor sich geht; die Fracht rollt auf eigenen Rädern in den Schiffsrumpf und auch wieder heraus. Wichtig ist, zu wissen: Beide Fotos wurden vom gleichen Standpunkt aus aufgenommen und jetzt wird Kennern klar: Bild eins mit dem Detailausschnitt entstand mit Tele, Bild zwei mit der Übersicht über das Geschehen entstand mit Weitwinkel. Hier hatte der Brennweitenwechsel die Aufgabe, zu demonstrieren, dass ein Weitwinkel mehr Motiv zeigt, als ein Tele, die Teleaufnahme dagegen die Einzelheiten eines Details genauer wiedergibt. Hier entscheidet der Fotograf: Will ich soviel wie möglich zeigen, dann ist eher das Weitwinkel angebracht. Oder soll das Geschehen möglichst konzentriert ins Bild kommen, dann muss es das Tele sein.Zum zweiten Beispiel: Autos im Vordergrund, Hafenanlagen in Hintergrund. Im Gegensatz zum ersten Beispiel wurde zwischen diesen beiden Aufnahmen der Standort gewechselt. Der Fotograf war bei Bild drei ein ganzes Stück von den Autos entfernt, bei Bild 4 stand er direkt vor dem PKW, das Objektiv in Höhe Heckklappe. Mit dieser Technik wir deutlich, wie stark ein Weitwinkelobjektiv die Größendifferenz zwischen Vorder- und Hintergrund übersteigert. Das Tele(-objektiv) zieht die Entfernung zusammen, zeigt jedoch die verbliebenen Motivteile in Konzentration. Das Weitwinkel bringt nur einen geringen Teil des Vordergrundes, dafür aber in riesigen Proportionen. Diese perspektivische Beeinflussung gibt das Motiv nicht mehr "normal" wieder und erzeugt eine erstaunliche graphische Wirkung. Die Entscheidung fällt also zwischen sachlicher Wiedergabe und gestalterischem Spiel.Die Bilder fünf und sechs machen die Charakteristiken von Tele und Weitwinkel noch einmal deutlich: Das Tele staucht den Raum; die Leitwerke der Flugzeuge scheinen kaum Raum für die Tragflächen zu lassen. Das Weitwinkel weitet den Raum; die drei fröhlichen Jugendlichen füllen den Vordergrund. Dennoch ist das nur wenige Meter entfernte Karussell fast ganz im Bild.

Sowohl Stauchungen als auch Übersteigerungen sind durchaus legitim und in der Lage, die Bildaussage – technisch bei Sachfotos und gestalterisch in der kreativen Fotografie – zu steigern. Sie dürfen jedoch in der Sachfotografie; also etwa bei Werbe- und Produktfotos, nicht zur Verfälschung der fotografierten Gegenstände und ihrer Funktionen führen. Hier müssen sich Werbefotografen manchmal ganz gewaltig am Riemen reissen, damit die gestalterischen Pferde nicht mit ihnen durchgehen. Denn wenn es weniger um ein "schönes" Bild, sondern um die positive Darstellung des Produktes eines Kunden geht, steht ausschließlich dessen Interesse im Vordergrund. Der kreative, d. h. freie, eigene Ideen verwirklichende Fotograf hat es da einfacher; aber auch er will meist den Geschmack seiner Betrachter treffen.

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