Rubriken: Aufnahmeeinstellungen, Motive und Situationen
Fremde fotografieren ...
2003-05-15 In diesem Tipp geht es um die Menschen, die uns – beruflich, auf Exkursion oder im Urlaub – in der Fremde begegnen und deren Umfeld sich von dem uns gewohnten unterscheidet. Solche "Fremden" kann man auf sehr vordergründige Art, aber auch mit starker innerer Beteiligung abbilden. Jeder muss den ihm eigenen Weg finden und erfahren, welche Art von Menschenbildern ihn am meisten befriedigt. Der Bogen spannt sich vom Voyeurismus bis zur lebensnahen, liebevollen Menschendarstellung, die zum Kunstwerk werden kann. (Jürgen Rautenberg)
Rechtsgelehrter [Foto: Jürgen Rauteberg]
Jeder Fotograf hat seine Manier, an ein Motiv heranzugehen. Der eine
setzt eine lange Brennweite ein. Mit der schießt er aus großem Abstand,
ohne, dass die/der Betroffene etwas bemerkt. Das führt zu so genannten
"natürlichen" Bildern, in denen die Fotografierten sich zwanglos
verhalten. Andere gehen nach dem Muster vor: Stellt Euch schön auf und
macht "cheese". Auf solchen Bildern scheint stets Friede, Freude,
Sonnenschein zu herrschen. Beiden Methoden ist eines gemeinsam: Wirkliche
Kommunikation, mehr oder weniger intensive menschliche Kontakte finden
selten statt, Fotograf und Fotografierte kennen einander kaum oder gar
nicht. Es geht nur darum, "anders" aussehende Menschen, denen man in der
Fremde begegnet, unter anderen Lebensumständen als daheim im Bild
festzuhalten. Warum auch nicht? Aber es kann sein, dass es dem engagierten
Fotografen irgendwann langweilig wird.
Alter Schlachter Heraklion [Foto: Jürgen Rauteberg]
Wir möchten Ihnen deshalb eine "Annäherung an Menschen" vorstellen, die
letztlich zu größerer persönlicher Befriedigung führt. Sie setzt voraus,
dass man an den Bewohnern des Gastlandes wirklich interessiert ist. Dass man
zu ihnen kommt, um etwas über ihr Land und Leben zu erfahren. Über die
Umstände und Besonderheiten, warum zum Beispiel ihr Alltag nach anderen
Gesetzen abläuft als der unsere. Menschenfotografie setzt Vertrauen voraus.
Vertrauen stellt sich ein, wenn das Gegenüber echtes Interesse spürt. Wer
unter dieser Voraussetzung fotografiert, hat den Vorteil, "wahres Leben"
einzufangen. So etwas gelingt nur dem, der aus Freude an der Sache
fotografiert.
Sachen rühren sich nicht vom Fleck. Fotografieren Sie Menschen, müssen
Sie ihr Gerät im Griff haben. Jede Verzögerung vor der Aufnahme, jedes
"Gefummel" nimmt dem Gegenüber ein Stück Ursprünglichkeit; versteift Haltung
und Gesichtszüge. Denken Sie voraus; erahnen Sie, was kommen könnte, dann
reagieren Sie schneller. Als generelle Einstellung wählen Sie am besten eine
Vollautomatik; sie trifft meist genau die richtige Belichtung und ist in
jedem Fall besser, als wenn Sie vor einer unwiederbringlichen Situation noch
ganz schnell umschalten müssten. Grundsätzlich: Die besten Motive kommen
unerwartet; achten Sie darauf, dass die Akkus Ihrer Kamera noch genug
Energie und die Speicherkarte genügend freie Kapazität hat. Denn nichts ist
ärgerlicher, als mit leeren Akkus oder vollem Speicher dem Motiv des Jahres
zu begegnen.
Tempelwächter in Indien [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild 1 In vielen Situationen wurde dem Autor
unserer Bilder vorgeworfen: "Sie wollen doch nur im reichen Westen zeigen,
wie primitiv man bei uns lebt". Begegnet man solchem Misstrauen mit den
richtigen Worten, dann ist Vertrauen schnell hergestellt. Der indische
"Rechtsgelehrte" führte nach einem solchen Gespräch den Fotografen durch
sein Dorf, der anfangs kritische Ton wurde bei einem echten "Minztee"
(Hinterlassenschaft französischer Besetzung) in aller Freundschaft
fortgesetzt.
Bild 2 Es ist nicht absolut scharf. Vorwürfen,
warum er es dennoch zeige, begegnet Jürgen Rautenberg mit dem Argument,
dass es ihm als Erinnerung an eine traurige Begebenheit wichtiger sei als
eine technische Beiläufigkeit. Drei Jahre nach dem Entstehen des Bildes
wollte er dem alten Schlachter in einer Kaufgasse in Heraklion eine
Vergrößerung bringen. Er fand den Stand nicht wieder und erkundigte sich
unter Vorzeigen des Fotos an einem Nachbarstand. Die Auskunft lautete, der Schlachter sei inzwischen gestorben. Aber sein Sohn arbeite nebenan und man
würde ihn holen. Es stellte sich heraus, dass dieser bisher kein Foto seines
Vaters besessen hatte. Nun eines zu haben, trieb ihm Freudentränen in die
Augen. Nur – fotografieren mochte der Fotograf ihn so nicht …
Fischer Achmed [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild 3 Die Menschen in Indien sind so bettelarm,
dass sie für ein paar Cents dankbar sind. Dieser war ganz gerührt, weil
jemand so einen Niemand wie ihn überhaupt ansprach und führte den Autor auf
seine Bitte hin durch sein Heiligtum, wobei er auch nicht den kleinsten
Winkel ausließ. Wer Menschen so "erlebt", wird sie anders fotografieren. Ob
das Foto selbst zum "Kunstwerk" wird, bleibt unerheblich; es wird zur
Reminiszenz nicht nur an eine Situation, sondern an eine menschliche
Begegnung. Keines der Fotos wurde gestellt. Sie ergaben sich aus der
Situation und haben deshalb Bezug zu ihr.
Bild 4 Achmed, der algerische Fischer, bestand auf
seine Captain-Pose. Und wie könnte man einen Menschen besser dokumentieren
als so, wie er sich selber sieht? Zwingen Sie Menschen nie eine Haltung auf,
die ihnen nicht entspricht oder liegt; das Bild würde an Natürlichkeit und
damit an Aussagekraft verlieren. Achmed teilte seine Trauben mit dem
Fotografen und erzählte, dass er mit Boot und Besatzung ständig rund um das
Mittelmeer führe – immer den Fischen nach. Und lud den Fotografen zu einer
nächtlichen Fangfahrt ein.