Rubrik: Aufnahmeeinstellungen
Lange Zeiten
2002-04-22 Die Belichtungszeiten beginnen je nach Kamera bei kurzen Belichtungszeiten von 1/500 oder kürzer und enden bei einer halben Sekunde oder länger. Diese Auswahl dient nicht nur dazu, um mehr oder weniger Licht auf den Chip zu lassen. Die Belichtungszeiten bestimmen weitgehend die Bewegungsschärfe bzw. -unschärfe unserer Fotos, die sich auch kreativ einsetzen lässt. (Jürgen Rautenberg)
Strand Ägina - verrissen [Foto: Jürgen Rauteberg]
Das erste Bild entstand am Abend. Holen Sie sich es sich einmal größer auf
den Bildschirm. Dann werden Sie feststellen, dass alle Lichtpunkte des Bildes
aussehen wie ein seitenverkehrtes "S". Das kommt davon, wenn ein
Fotograf meint, er könne auch bei geringer Beleuchtung noch aus der Hand
auslösen: Die S-Bewegung hat seine Kamera während des Auslösevorganges mit
der 1/15 Sekunde vollzogen – sie manifestiert sich im Bild. Auf den Punkt
gebracht: Dieses ist eine Verwacklung und damit ein Fehler. Oberstes Gesetz ist
daher besonders bei langen Zeiten: Kein Ruck! Die Auslösebewegung muss leicht
und ruhig erfolgen.
Nicht jede Verwacklung ist ein Fehler. Wenn sie bewusst herbeigeführt wird,
heißt sie nicht mehr Verwacklung, sondern Verwischung und wird zum
Gestaltungsmittel – wie Bild zwei demonstriert. Es entstand als Titel für eine
Arbeit über Optik. Ziehen Sie mit der Kamera los, sobald die Straßen-,
Schaufenster- und Werbeleuchten eingeschaltet werden. Besitzt Ihre Kamera eine
Blendenautomatik, d. h. können Sie die Belichtungszeiten von Hand vorgeben,
dann wählen Sie zwischen der 1/8 und der 1/30 Sekunde; je länger die Zeit, um
so stärker der Effekt. Arbeitet Ihre Kamera ausschließlich vollautomatisch,
probieren Sie es trotzdem; bei wenig Licht wird die Kamera eine lange
Belichtungszeit wählen. Um dies sicherzustellen und im Interesse eines geringen
Bildrauschens stellen Sie die Empfindlichkeit fest auf ISO 100 ein (also nicht
auf Automatik). Bewegen Sie die Kamera während der Belichtung zur Seite, nach
oben, nach unten, diagonal, beschreiben Sie einen Kreis oder eine Drehung um die
Objektivachse. Jede Bewegung führt zu einem anderen Effekt. Ein bisschen
Mitdenken hilft. Probieren Sie verschiedene Varianten aus, ein Digitalfoto mehr
kostet ja nichts.
Aufschrift Optik - mitgezogen [Foto: Jürgen Rauteberg]
In Bild drei wird nicht die Kamera geschwenkt, sondern das Motiv bewegt sich.
Jetzt ist der Effekt ein völlig anderer. Was sich nicht bewegt, wird scharf,
was sich bewegt, wird unscharf abgebildet. Das Beispiel des drehenden Karussells
mit der Beobachterin in Rot zeigt es: Genau so – verwischt durch die Drehung
– sehen wir das Motiv in der Realität! Nur wenn wir ein Detail mit dem Auge
verfolgen, empfinden wir dieses – nur dieses – als scharf. Dieses
"mitziehen" ist ein weiterer Effekt im Spiel mit der
Bewegungsunschärfe.
Karussel - drehend mit rotem Pol [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild vier zeigt einen interessanten Kalt-Warm-Kontrast zwischen dem
verschneiten Platz und dem von Glühlampen erleuchteten Bogengang. Die Kamera
war auf ein Stativ montiert, 1/30 Sekunde vorgegeben. So wurde gewährleistet,
dass die ruhenden Motivteile scharf gezeichnet werden. Die sich bewegenden
Passanten dagegen werden, je nach der Schnelligkeit ihrer Fortbewegung und ihrem
Standort im Bild, in unterschiedlichen Verwischungsgraden wiedergegeben.
Verwischung ist eine äußerst interessante Technik. In Sport oder Tanz – aber nicht nur dort
– gibt es hervorragende Beispiele, die Vorgänge bis zur
Abstraktion verfremden und das Motiv in Farb- und Formklänge auflösen. Deshalb
eignet sich die Technik so gut für kreative Fotografen.
Bogengang Venedig - Verwischungen [Foto: Jürgen Rauteberg]