Rubrik: Bildgestaltung
Regeln oder Kreativität?
2003-06-02 Man kann seine Bilder nach den Regeln gestalten, die wohlmeinende Fotofreunde uns bereitwillig und in Mengen zur Verfügung stellen. Oder wir können nach den Vorstellungen fotografieren, die wir selbst von einem guten Bild haben und setzen unsere Kreativität ein. (Jürgen Rautenberg)
Bahnhof Japan [Foto: Jürgen Rauteberg]
Denn was manche Fotofreunde uns so wohlmeinend raten, ist nicht immer
der Weisheit letzter Schluss. In der Amateurfotografie haben sich im
Laufe von Jahrzehnten ganz feste Vorstellungen zum Thema "Gestaltung"
eingenistet, die eigentlich keine Gestaltungsmittel mehr sind, sondern nur
noch starre Regeln: "Ein Porträt darf nicht im Querformat aufgenommen
werden", heißt es da. Oder "Der Horizont eines Landschaftsfotos darf nicht
durch die Bildmitte verlaufen" oder "Motive müssen in Leserichtung
fotografiert werden" oder "Jedes Bild muss nach dem Goldenen Schnitt
gebaut sein". Natürlich steckt in manchem ein wahrer Kern, aber der ist
irgendwo auf der Strecke geblieben.
Wie kommen solche Dogmen zustande? Ein guter Referent spricht ausführlich
über ein Thema. Wer nicht aufpasst oder nicht folgen kann, wird nur einen
Teil davon im Kopf behalten. Er formt sich aus diesen Bruchstücken ein
eigenes Bild des Themas. Dieses gibt er an andere weiter, diese wieder an
andere und so geht es weiter und weiter mit der Folge, dass von dem
vielschichtigen Sinn, der im Referat des ersten Referenten durchaus
erkennbar war, nach Jahren nur noch ein Schema bleibt. Eine Regel, die keine
Verbindung zum eigentlichen Inhalt mehr gestattet, weil das Wissen darum
auf der Strecke geblieben ist.
Vermauertes Tor zu den Saadiergräbern, Marrakesh [Foto: Jürgen Rauteberg]
Dem gegenüber steht die Kreativität. Die Fähigkeit des Einzelnen, in
eigenen Kategorien zu denken, eigene Ideen zu entwickeln und für die
Umsetzung in ein Bild die adäquate Form zu finden. Auch der Kreative braucht
die Voraussetzung dazu, nämlich "Stilmittel". In der Fotografie nennt man
sie "Gestaltungsmittel". Licht, Farbe, Form, Schärfe und Unschärfe, Bewegung
– um nur die wichtigsten zu nennen – stehen uns in unzähligen Variationen
und Kombinationen zur Verfügung. Im
Gegensatz zur starren Regel kann man mit ihnen spielen; kann sie wandeln und
formen und der eigenen Vorstellung anpassen. Nur – man muss sie sich
erarbeiten. Man muss wissen, welche Aussage von einer bestimmten Form oder
Farbe, oder einer Kombination daraus, unterstützt wird. Man muss erfahren, wo
absolute Schärfe unerlässlich ist und wo Unschärfe eine entscheidende Rolle
spielt. Man kann den Goldenen Schnitt einsetzen, wenn diese Formel eine
Aussage unterstützt – aber man muss nicht. Das Gespür für solche
Entscheidungen erfordert Zeit und setzt Interesse, Geduld und Willen voraus,
sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen Ein Fundus an abrufbaren
Gestaltungsmitteln ist dabei nicht zu verachten.
Der beste Rat, den man jungen Fotografen (und auch Malern, Bildhauern,
Musikern, Tänzern etc.) geben kann, lautet: Wer sich vor Dogmen und alten
Hüten hütet, wer sich seine Kreativität bewahrt, wer seine Visionen
kompromisslos umsetzt, ist auf dem richtigen Weg.
Sonnenporträt - Mann mit Bart auf Lanzarote [Foto: Jürgen Rauteberg]
Vier Beispiele sollen zeigen, was "aufgrund bestehender Regeln nicht sein
darf". Hielte man sich daran, gäbe es viele der schönsten Kunstwerke unserer
Welt nicht. Sie werden sehen: Manches, was auf den ersten Blick unwichtig
erscheint, offenbart bei näherem Hinschauen seine Bedeutung. Die jeweilige
"Regel" ist kursiv wiedergegeben.
Bild 1 Bahnhof in Japan: "Ein solches Durcheinander
von Formen und Linien macht das Bild unruhig". Was aber, wenn der Fotograf
gerade die Unruhe, die er angesichts des Motivs empfand, zeigen will?
Bild 2 Tor in Marrakesh: "Das Bild hat stürzende
Linien, sie verzerren die Realität". Stimmt. Und warum auch nicht? Wenn
doch "Stürzende Linien" gerade das Stilmittel sind, Höhe, Wucht, Kraft, Erhabenheit eines Gebäudes, seine Funktion oder Eigenart hervorzuheben?
Außerdem: Für einen Maler ist es selbstverständlich, das, was er sieht, zu
seiner persönlichen Sicht der Dinge umzuformen; es gestalterisch zu
überhöhen und damit einer neuen Idee Ausdruck zu verleihen, etwas Neues zu erschaffen. Warum sollte der Fotograf das nicht dürfen?
Niederrhein - Sonnenuntergang [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild 3 Ein Mensch: "Der Kopf der Person ist
angeschnitten". Das Haar in das Bild aufzunehmen wäre kein Problem, nur: Je
größer der Bildausschnitt, umso kleiner werden alle Einzelheiten wiedergegeben. Das interessante an diesem Menschen ist aber nicht sein
Haar, sondern das von Seitenlicht wie herausgemeißelt erscheinende prägnante
Gesicht. Und darauf konzentriert sich die Großaufnahme.
Bild 4 Am Niederrhein: "Es wurde zu viel Raum
verschenkt, der Vordergrund ist nichts sagend". Unser Vorschlag: Decken Sie
den "nichts sagenden" Vordergrund ab und betrachten Sie den Rest. Fällt Ihnen auf, dass jetzt das Bild ein Stück Dreidimensionalität und damit an
Weite, an Plastizität verloren hat? Damit verliert es ein Stück Atmosphäre
und wird zu einem der Alltagsbilder ohne besonderes Flair, wie wir sie
zuhauf sehen.