Rubrik: Bildgestaltung
Scherenschnitte à la Fotografie
2001-09-24 Es gibt Lichtsituationen, bei denen der Kontrast zwischen hell und dunkel enorm groß ist. Die Lichter kommen zu hell, die Schatten zu dunkel, die Zahl der Zwischentöne ist gering. "Kein Fotowetter" sagen die einen, "Scherenschnittzeit" freuen sich die anderen und produzieren eine ganz besondere Spezies ansprechender Bilder. (Jürgen Rautenberg)
Netz flickender Fischer, Holm [Foto: Jürgen Rauteberg]
Was ist gemeint? Bei Gegenlicht, vor allem bei tief stehender Sonne morgens
und abends, erhalten alle Motivstellen, die im Licht liegen, die richtige,
eventuell sogar eine zu hohe Lichtmenge; sie erscheinen, je nach Situation,
relativ hell. Alle Motivteile aber, die im Schatten liegen, haben kaum Chance
auf Farbe oder Helligkeitsnuancen; sie werden sehr dunkel bis schwarz
wiedergegeben. Ursache ist eine aufgrund der Gegenlichtsituation auftretende
starke Unterbelichtung, die jedoch – ohne Belichtungskorrektur – gestalterisch
genutzt werden kann.
Es ist zwar ohne großen Aufwand möglich, diese Schwärze aufzuheben oder
zumindest zu verringern, indem man heller belichtet als der Belichtungsmesser
es vorgibt. Dafür benötigt man die Funktion "Belichtungskorrektur",
die fast jede Kamera besitzt. Manchmal kann man damit Vordergrundstruktur und
-farben retten. Obwohl auch das fragwürdig ist; die Farben, die sich dann in
den Schatten zeigen, bleiben matt und verschwärzlicht. Wo kein Licht; da keine
Farben – um das physikalische Gesetz kommen wir nicht herum.
Abend mit tanzendem Mädchen, Hafen Ägina [Foto: Jürgen Rauteberg]
Einen anderen Ausweg böte die Funktion "Aufhellblitzen". Ist das
Motiv nicht weiter als drei bis vier Meter entfernt, erhalten Sie mit dem
eingebauten Blitz einen klarfarbenen Vordergrund. Aber eben auch ein
klarfarbenes Bild, wie es sie zu Milliarden gibt. Gewinnt das Motiv dadurch,
spricht nichts dagegen. Aber man kann auch seinen eigenen Weg gehen und etwas Besonderes aus seinem Motiv machen.
Also, nehmen Sie das Motiv, wie es sich
Ihnen bietet. Mit hartem Kontrast und einem Vordergrund, der sich als
Scherenschnitt entpuppt.
Bild 1 Die Lichtsituation – tiefstehende Sonne
und ihre Reflektion auf dem Wasser – stellt das Schattenmotiv vor einen hellen
Hintergrund. Die Szene mit dem Netze flickenden Fischer wirkt wie aus der
Fläche herausgeschnitten.
Drei Fotografen vor Blau [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild 2 Eine mit Bild 1 durchaus verwandte
Situation. Nur erscheint der Hintergrund aufgrund einer anderen
Witterungslage nicht farblos hell, vielmehr vermitteln die warmen Farben
in Verbindung mit dem tanzenden Kind dem Motiv eine angenehme,
ruhig-heitere Atmosphäre. Gerade bei Scherenschnitten lässt sich die
unendliche Vielfalt witterungsbedingter Erscheinungsformen erkennen und
einsetzen.
Bild 3 Dieses Bild schoss Thomas Melsheimer
während einer Fotoexkursion. Seine Kollegen fotografierten die grandiose
Berglandschaft. Was dabei heraus kam, wissen wir nicht. Ihm aber gelang
– vor den wunderschönen, durch Dunst zart gezeichneten Gipfelformen des
Hintergrundes – eine formal hervorragend gelöste Komposition. Sie beruht
auf dem Kontrast zwischen schwerem Stein und filigranen Menschenfiguren
sowie auf dem Dreiklang der sehr bewegt wirkenden schwarzen Formen.