Rubrik: Bildgestaltung
Stürzende Linien
2000-10-23 Jeder Fotograf kennt es: Häuserwände fallen zur Bildmitte hin zusammen, Türme, Fenster, Türen sind oben schmaler als unten – woran liegt das? Sie haben Ihre Kamera nicht waagerecht gehalten, sondern nach oben verkantet. Zunächst ist das ein Fehler. Konsequent eingesetzt, wird der Fehler jedoch zu einem prägenden Gestaltungsmittel, das Bildern Symbolkraft verleihen kann. (Jürgen Rautenberg)
Kampanile auf Venedigs Markusplatz wirkt bei steiler Unteransicht riesig [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bauwerk, Natur oder Streichholzschachtel – alles lässt sich auf zweierlei Weise fotografieren: Formgerecht; das ergibt eine technisch exakte Wiedergabe. Oder kreativ; das verändert die konkrete Form und öffnet das Tor für gestalterische Interpretation. Nehmen wir als Beispiel eine Hausfassade. Da Sie in einer Straße stehen und das Haus recht hoch ist, müssen Sie, um die ganze Fassade zu erfassen, die Kamera nach oben schwenken und genau hier liegt das Problem. Machen Sie den Fehler lieber gleich zum Gestaltungsmittel und nutzen Sie ihn, um dem Betrachter Ihre Intention noch eingehender zu vermitteln!
Geringe Kameraneigung nach oben betont den beschaulichen Charakter der Situation [Foto: Jürgen Rauteberg]
Stürzende Linien nennt man den Effekt. Oder auch Froschperspektive. Die erste Bezeichnung ist technischer Art, die zweite sagt eher, was inhaltlich geschieht. Ein Frosch ist winzig; er erlebt die Welt aus einem gefährlichen Blickwinkel. Passt er nicht auf, kann ein Tritt ihn treffen oder ein Autoreifen ihn erwischen oder der Storch. Den Menschen erlebt der Frosch als ein Riesenmonster mit überdimensionalen Füßen und einem winzigen Kopf, vor dem er sich gewaltig in Acht nehmen muss. Eine recht prekäre Lage; im übertragenen Sinne fühlt er sich je nach konkreter Situation klein, schwach, ängstlich oder gefährdet.
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Ursache für "Stürzende Linien": Je weiter von der Kamera entfernt, desto kleiner werden die Motivteile abgebildet. Beim Kamerastandpunkt "A" ist die Entfernung Kamera/oberer Motivpunkt wesentlich größer als die Entfernung Kamera/unterer Motivpunkt. Folglich wird das Motiv oben kleiner abgebildet als unten. Beim Kamerastandpunkt "B" ist die Länge der oberen und unteren Entfernung nahezu ausgeglichen; die Differenzen sind minimal, der Effekt der Stürzenden Linien wird geringer und irgendwann nicht mehr erkennbar.
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Übertragen wir das auf uns: Ein Turm, himmelhoch höher als wir kleinen Menschen, erscheint uns schwer, wuchtig, bedrohlich, aufragend. Tatsächlich können wir ein Foto so gestalten, dass ein Turm durch den Einsatz von Stürzenden Linien Assoziationen zu den oben genannten Attributen wach ruft. Setzen Sie an die Stelle des Turmes einen auf Sie zu rasenden Lastwagen, ein Gewitter; alles, was eine bedrohliche Größe oder Funktion hat, wird zur vermeintlichen Gefahr. Selbst einen Menschen, steil von unten aufgenommen, können wir als etwas Gewalttätiges empfinden. Wir fühlen uns wehrlos, schutzlos, bedrängt.
Übertreibung ist ein wichtiges Gestaltungsmittel in der Kunst. Gehen Sie nah an das Motiv heran und fotografieren Sie so steil nach oben wie irgend möglich. Fünf, drei, zwei Meter von dessen Basis entfernt! Halbe Sachen bringen nichts. Natürlich spielt die Größe des Motivs dabei eine Rolle. Vielleicht müssen Sie in die Knie gehen oder die Kamera sogar in Bodenhöhe halten, um das Optimum an Wirkung zu erzielen. Äußerst bequem sind hierbei natürlich Digitalkameras mit schwenkbarem LCD-Monitor, die derartiges ohne Verrenkungen ermöglichen.
Nordisches Mittelalter - Stürzende Linien verändern, aber intensivieren auch das optische Erlebnis [Foto: Jürgen Rauteberg]
Hat Ihre Kamera ein Zoomobjektiv, dann probieren Sie die Wirkung der unterschiedlichen Brennweiten (= Bildwinkel) aus. Sie werden feststellen, dass eine kurze Brennweite, also ein Weitwinkel, aufgrund des kürzeren Aufnahmeabstandes den Effekt verstärkt.
Bild 1 Der Kampanile auf Venedigs Markusplatz wirkt bei steiler Unteransicht riesig.
Griechische Klassik - Stürzende Linien verändern, aber intensivieren auch das optische Erlebnis [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild 2 Bei diesem eher romantischen Motiv wäre dramatische Übertreibung nicht angebracht; die geringe Kameraneigung nach oben betont den beschaulichen Charakter der Situation.
Bild 3 und 4 Nordisches Mittelalter oder griechische Klassik; Stürzende Linien verändern, aber intensivieren auch das optische Erlebnis.