Rubrik: Bildgestaltung
Unschärfe macht Sinn
2000-07-31 Besser ausgestattete Digitalkameras bieten dem Fotografen die Möglichkeit, in die Belichtung einzugreifen. Er kann durch Blendenvorgabe die Schärfentiefe selbst bestimmen. Die Grundregel ist ganz einfach: Je kleiner die Blendenöffnung, um so größer die Schärfentiefe; je größer die Blendenöffnung, ums so geringer die Schärfentiefe. Die Anfängerregel heißt: Je mehr Schärfe, um so besser. Das solches wirklich nur für Anfänger gilt, lernt der schnell, der sich ein bisschen intensiver mit fotografischen Gestaltungsmöglichkeiten befasst. (Jürgen Rautenberg)
Arrecife -- gleichmäßige Schärfe [Foto: Jürgen Rauteberg]
Unschärfe ist ein hervorragendes Mittel, dem Betrachter eines
Bildes zu vermitteln, welche Bildkomponenten dem Fotografen wichtig
erscheinen und welche nicht. Denn aufgrund unserer alltäglichen
Sehgewohnheiten wissen wir: Alles, was scharf ist, akzeptieren wir
als wichtig. Alles, was unscharf erscheint, ist günstigenfalls
Lokalkolorit, ungünstigenfalls störend. Die alten Maler kannten
eine Unmenge von Symbolen, mit denen sie dem Betrachter unter der
Hand Dinge mitteilten, die im Bild selbst gar nicht erschienen. Die
Zitrone in der Hand des jungen Edelfräulein gab eindeutig zu
verstehen: "Vorsicht, die Dame ist vergeben".
Vergleichbare Symbolkraft hat in der Fotografie die partielle
Unschärfe. Richtig eingesetzt, erleichtert sie dem Betrachter das
Erkennen der Bildbotschaft.
Nehmen wir einmal an, vor Ihnen stehen zwei Personen; die eine
ist drei, die andere, leicht seitlich versetzt, fünf Meter
entfernt. Um beide deutlich wahrzunehmen, müssen Sie den Blick von
der einen zur anderen hin und her wandern lassen. Das ist gut so,
denn stellen Sie sich vor, Sie würden alle Dinge, die sich in Ihrem
Blickfeld befinden, ständig gleichzeitig scharf sehen! Wohl niemand
hielte die Informationsfülle auf Dauer aus. Deshalb sehen wir in
der Realität nur einen winzigen Ausschnitt wirklich scharf. Anders
beim Fotografieren. Wenn Ihre Blende klein genug eingestellt ist,
erscheinen auf dem Bild beide Personen scharf. Oft aber interessiert
Sie eigentlich nur eine der beiden, die andere steht mehr oder
weniger zufällig im Bild herum. Jetzt können Sie einen
fotografischen Fehler nutzen, um genau das zu erreichen, was Sie
vorhaben: Sie lassen den Betrachter nur die eine der beiden Personen
wahrnehmen, auf die es Ihnen ankommt: Geben Sie eine große
Blendenöffnung vor (z. B. F2,0 oder F2,8) und stellen Sie die Entfernung
auf die vordere Person ein. Das Bild zeigt nur diese Person scharf,
die andere wird zur Nebensache.
Rose -- Schärfe im Vordergrund [Foto: Jürgen Rauteberg]
In der Realität richten wir den Blick auf das, was uns
interessiert. In der Fotografie geben wir dem Betrachter durch
gezielte Schärfen-/Unschärfenverteilung vor, was ihn zu
interessieren hat. So ist der Fotograf in der Lage, den Blick des
Betrachters exakt dorthin zu steuern, wo er ihn haben will. Ganz
nach der Regel: Scharf = wichtig, unscharf = sekundär.
Bild 1 Fort, Stadt und Landschaft von
Arrecife gehören zusammen und erscheinen dem Fotografen gleich
wichtig. Deshalb muss alles im Bild gleich scharf erkennbar sein.
Die erforderliche Schärfentiefe wird durch Vorgabe einer kleinen
Blendenöffnung erreicht.
Inder -- Mensch als Hauptmotiv [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild 2 Es genügt, wenn einer der
beiden Bildpunkte scharf ist. Der Betrachter weiß, dass die zweite
Rose der ersten gleicht und kann sich auf einen Bildpunkt
konzentrieren. Das zweite unscharfe Element schafft auch in seiner
Unschärfe zusätzlichen Reiz, indem es einen Aufmerksamkeit
erregenden Kontrapunkt anbietet.
Glasgefäß -- Schärfe im Vordergrund [Foto: Jürgen Rauteberg]
Bild 3 Hier ist der alte Inder
Mittelpunkt des Bildes. Ein ebenso scharf abgebildeter Hintergrund
würde das Bild unruhig machen und Unruhe wirkt negativ. Dem
Betrachter wird der Mensch als Hauptmotiv angeboten, der Hintergrund
liefert gerade noch erkennbares Lokalkolorit.
Bild 4 Der mit Lichtbändern
spielende Rand eines Glasgefäßes ist das Hauptmotiv, die
Pflanzenornamente im Hintergrund liefern nur ergänzende Form und
Farbe. Deshalb liegt die Schärfe nur im Vordergrund, der
Hintergrund wird durch entsprechend große Blendeneinstellung
unscharf gehalten.