Rubrik: Bildgestaltung

Vogelperspektive

2000-12-18 Ein Frosch sieht die Welt mit anderen Augen als ein Vogel, lebt in ständiger Gefahr. Der Vogel fliegt unbeschwert über Stadt und Land und Meer. Auch wir fühlen uns freier, wenn wir auf einem Berg oder Turm stehen und auf das Treiben unter uns hinab schauen. So haben von oben aufgenommene Fotos eine ganz besondere Wirkung auf den Betrachter.  (Jürgen Rautenberg)

Die von hohem Standpunkt aufgenommenen Fotos bieten mit ihrem Blick ins Land ein Stück Freiheit, das mit dem viel zitierten Blick in den Kochtopf der "armseligen kleinen Leute dort unten" fast ein Stück Überheblichkeit ausdrücken kann. Dieses Phänomen, Vogelperspektive genannt, lässt sich fotografisch nutzen. Doch man braucht nicht erst die Psychologie zu bemühen. Jedem Anfänger wird gepredigt, dass er die Kamera gefälligst waagerecht zu halten habe, wenn er richtige Fotos schießen will. Das haftet und wird leicht zum Dogma. Von solchen Amateurvorgaben muss man sich freimachen. Allein schon durch die abwärts gerichtete Kamera entstehen ungewöhnliche Perspektiven; die Sichtweise weicht von der alltäglichen ab. Was aber vom Alltagsbild abweicht, erweckt größere Aufmerksamkeit, erzeugt einen positiven Effekt. Zudem kann der Blick von oben bei bestimmten Motiven mehr und genauere Informationen vermitteln, als der frontale. Soll ein Ort oder eine Landschaft dokumentiert werden, dann bietet die Aufsicht einfach mehr Übersicht sowie bessere Orientierung und Zuordnung der Zusammenhänge.

Der Aufnahmewinkel kann variieren. In der Landschaft ist er in der Regel dadurch vorgegeben, dass man einen Berg oder Turm, auf dem man steht, nicht verrücken kann. Bei den meisten Motivbereichen jedoch ist er frei wählbar. Allerdings muss dabei die Perspektive berücksichtigt werden. Ein Motiv in Form eines Kubus – Großbauwerk oder Zigarettenschachtel – wird verzeichnet wiedergegeben, wenn es mit erhöhtem Kamerastandort aufgenommen wurde. Rechte Winkel bleiben nicht rechtwinklig; die Flächen nahe der Kamera werden größer abgebildet als die entfernteren. Diese Verzeichnung kann sich gestalterisch positiv oder negativ auswirken, je nachdem, was der Fotograf aussagen will. Die sachliche Wiedergabe einer Konstruktion verträgt keine großen Abweichungen; der Betrachter macht sich sonst ein falsches Bild. In der kreativen Fotografie dagegen können Verzeichnungen durchaus belebend wirken. Nur ein Beispiel: In der dokumentativen Architekturfotografie muß natürlich jede aufstrebende Mauer senkrecht, jeder Winkel dem Bauwerk entsprechend dargestellt werden. Indem Fotografen die Architektur moderner Bauwerke durch Verzeichnung überzogen darstellten, entstanden Bilder von einmaligem Reiz; die Fotografen wurden damit berühmt.

Die Stärke der perspektivischen Verzeichnung kann durch den Aufnahmeabstand geändert werden. Je größer der Abstand, um so geringer, je kürzer der Abstand, um so stärker die Verzeichnung. Durch die Änderung des Aufnahmeabstandes ändert sich allerdings auch der Bildausschnitt; je größer der Abstand, um so mehr kommt aufs Bild. Da Sie aber in der Regel den motivfüllenden Bildausschnitt erhalten wollen, müssen Sie das ausgleichen, indem Sie bei größerem Abstand eine längere, bei kürzerem Abstand eine kürzere Brennweite wählen.

Es geht nicht anders: Wer solche Gestaltungsmittel einsetzen will, muss üben, muss seine Probeserien schießen. Experimentiert man erst wenn man vor der konkreten Aufgabe steht, kann das leicht ins Auge gehen. Wer aber Spaß an der Fotografie hat, ob er sie nun privat oder beruflich nutzt, dem werden solche Etüden eher ein Vergnügen sein.

Bild 1  "Venedig; Markusplatz": Der Blick von einer erhöhten Loggia zeigt das Geschehen auf dem Platz in aller Lebendigkeit; der Betrachter "überschaut" die Szene.

Bild 2  "Gebirgsort": Nur aus der gewählten Aufnahmeposition ist die Geländeform, der Straßenverlauf, die Anlage des Wohngebietes anschaulich zu übersehen; wertvolle Informationen für den Landschaftsgestalter, eigenwillige Linienführung für den Kreativen.

Bild 3  "Blick ins Land": Oben die Burg, die alles, was auf Straße und Fluß in der Tiefe geschieht, kontrollieren kann, dazu der freie Blick über das weite Land. Dennoch hätte das Bild durch einen etwas höheren Aufnahmestandpunkt verbessert werden können: Der Himmel ist nichtssagend, er stört eher.

Bild 4 und 5  "Henkeldose": Bild 4 steht als Beispiel für eine Sachaufnahme. Kameraneigung ca 15°, großer Aufnahmeabstand, Teleobjektiv; kaum erkennbare Verzeichnung. Bild 5 zeigt das Gegenteil: Kameraneigung ca. 75°, extrem kurzer Abstand (ca. 25 cm), Weitwinkel; starke Verzeichnung, eher etwas für Phantasievolle. Alle Zwischenstadien sind möglich.

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