Rubrik: Bildgestaltung

Wenn die Sonne im Meer versinkt

2001-07-30 Bilder von Sonnenauf- und Untergängen mit ihrem Reichtum an Farben und Nuancen von zart bis stark sind romantisch und deshalb beliebt. Von Sonnenuntergangsbildern kann der eine nicht genug bekommen, der andere belächelt sie als Kitsch und lehnt sie ab. Kaum ein Mensch mit Gespür für Schönheit aber kann sich ihrem Einfluss entziehen.  (Jürgen Rautenberg)

Wer noch nie an einem Berghang gesessen und das Versinken der Sonne hinter dem Horizont auf sich hat wirken lassen, kann die Faszination des Ereignisses vielleicht nicht verstehen. Beobachten Sie doch einmal, was alles geschieht, während unsere Lebensspenderin verschwindet. Wie sich ihre Form vom Kreis zum Oval wandelt, wie ihre Ränder über dem Horizont zu flimmern beginnen, wie die Wolkenstreifen sie durchschneiden, wie sie sich schließlich mit einem Feuerwerk bis zum nächsten Tag verabschiedet. Wie lässt sich diese Poesie in das technische Medium Foto umsetzen?

Wenn die Sonne am Abend noch ein Stück über dem Horizont steht, nehmen Sie die Dinge im Motivraum noch als relativ hell wahr. Einzelheiten und Farben sind durchaus zu unterscheiden. Wenn Sie jetzt die tief stehende Sonne ins Bild nehmen und die Belichtungsmessung aktivieren, dann erkennen Sie beim Blick auf den Monitor mit etwas Erfahrung, dass Sie eine starke Unterbelichtung zu erwarten haben. Das Licht der sinkenden Sonne ist immer noch so stark, dass es diese Unterbelichtung um erfahrungsgemäß etwa zwei Belichtungsstufen bewirkt. Wenn Sie jetzt durch Korrektur einen Ausgleich herbeiführen, indem Sie die Belichtung um zwei Stufen heller korrigieren, dann begehen Sie einen Fehler, der den Stimmungsgehalt Ihres Motivs zerstört! Warum? Ihr Motiv würde, korrigiert, im Bild tatsächlich heller wiedergegeben. Farben und Formen wären jedoch blass und fade und vom prächtigen Lichtspiel bliebe nicht viel.

Unterlassen Sie jedoch die Korrektur, dann erleben Sie eine Überraschung: Durch das direkte Sonnenlicht beeinflusst, kommt es zwar tatsächlich zu einer Unterbelichtung; das ganze Bild wird dunkler als die reale Situation, Formen und Farben vorhandener Vordergrundmotive werden bis zum Schattenriss unterdrückt (Bild 1). Dort, wo die Sonne aber auf Wolken und Luftschichten stößt, ruft ihr Licht Farb- und Formenspiele von großer Vielfalt und gewaltiger Kraft hervor, die durch die Unterbelichtung erst Ihre Kraft erhalten. Farben, die im Motiv selbst nur schwach sichtbar sind, werden durch die Unterbelichtung sogar in ihrer Wirkung gesteigert! Vermeiden Sie also – fast kann man sagen, grundsätzlich – bei Sonnenauf- und Untergängen jede Belichtungskorrektur. Die Farbkraft lässt sich sogar noch steigern, indem zusätzlich um eine halbe oder ganze Stufe unterbelichtet wird. Um Erfahrung zu sammeln, machen Sie von ähnlichen Situationen Belichtungsreihen; korrigieren Sie -1/0, 0/+1/+2.

Besonderer Reiz entsteht, wenn sich das Geschehen in Wasser oder glänzenden Motivelementen spiegelt. Die am Horizont dicht über dem Wasser stehende Sonne, in Bild 2 die Mitternachtssonne in Norwegen, zieht eine Lichtbahn bis zum Bildvordergrund, spielerisch aufgelöst durch die Bewegung des Wassers. Es gibt Ausnahmen: Bild 3 wurde um eine Stufe plus korrigiert, um die Helligkeitskontraste zwischen den einzelnen Berglinien besser zur Geltung zu bringen; ganz ohne Korrektur wären alle Grate gleich schwarz geworden und zu einer Masse verklebt. Beachten Sie den Lichtsaum, der, vom Gegenlicht erzeugt, das Haar des Mädchens wie eine Aureole umspielt.

Artikel-Vorschläge der Redaktion