Digitales China-Syndrom
Das Rätsel der unscharfen Schriftzeichen
2007-02-05 Wer schon einmal auf Reisen im Fernen Osten war und dort die allgegenwärtigen Schriftzeichen mit seiner Digitalkamera ins Bild gesetzt hat, wird eine rätselhafte Erscheinung beobachtet haben: teilweise Unschärfe in den Bildern. Beim Fotografieren in Asien gibt es eine interessante Besonderheit: In der chinesischen Kultur ist ein roter Hintergrund sehr beliebt und verbreitet, sei es im Restaurant für die Hochzeitsgelage, im Tempel, für Festschriften oder Verkaufsschilder. Meistens wird mit goldenen Schriftzeichen auf diesem roten Hintergrund geschrieben, aber oft auch mit schwarzer Tinte. Digitale Fotos dieser Poster, Plakate oder Stoffe weisen zunächst unerklärliche Fehler auf, selbst wenn sie nicht als Hauptmotiv im Bild sind. Digitalkamera.de-Fernostkorrespondent Wilfried Bittner (hauptberuflich als Kamerakonstrukteur tätig) ist dem Phänomen einmal auf den Grund gegangen. (Wilfried Bittner)
Beim digitalen Fotografieren von schwarzen Schriftzeichen auf rotem Hintergrund fällt gelegentlich auf, dass da "etwas nicht stimmt" mit der Schärfe, besonders bei kleiner Schrift. Die Schriftzeichen scheinen verschmiert zu sein, obwohl die Bilddetails daneben scharf sind. Es liegt also nicht am Scharfstellen, und es passiert auch mit verschiedenen Kameramodellen.
Das Bild 1 zeigt einen Händler in Sheung Wan, der auf dem Gehsteig Speiseöl vom Fass abzapft und in kleinen Mengen verkauft. Sheung Wan ist übrigens ein sehr fotogenes, uriges Stadtviertel von Hong Kong, in dem die alten Händler für Haifischflossen, Schwalbennester und allerlei chinesische Medizin wie getrocknete Molche, Hirschpenise (mit Anhang), Fischmägen oder Seepferdchen angesiedelt sind. Bei gutem Wetter sind überall auf den Gehsteigen diverse Pilze und aufgeschnittenes Wurzelwerk zum Trocknen ausgebreitet – direkt zwischen Fußgängern und dem Autoverkehr mit seinen Abgasen. Aber zurück zum Bild: Die schwarze Schrift auf dem roten Werbeplakat im Laden war im Original für das Auge scharf und klar geschrieben. Der Ausschnitt aus Bild 1 zeigt, dass (nur) die schwarze Schrift unscharf ist. Auch das Bild in der Einleitung zeigt, dass allein die schwarze Schrift auf dem roten Papier verschmiert wirkt, die Übrigen nicht; auch diese war dem Augenschein nach aber in Wirklichkeit scharf.
Um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, bedurfte es eines speziellen Tests. Die Testtafel mit drei farbigen Siemens-Sternen (Bild 2) wurde so abgestimmt, dass nach einer Konvertierung zu Schwarz-Weiß alle drei so gut wie möglich den gleichen Grauwert (und damit den gleichen Kontrast) haben, siehe Bild 3). Als Testkameras wurden eine Canon EOS 20D und eine Nikon D200 verwendet. Beide Kameras waren auf JPEG fine, normal sharpening eingestellt.
Nachdem die Testtafel abfotografiert war, wurden die farbigen Bilder in Photoshop auf Graustufen konvertiert und vermessen. Bei beiden Kameras war eine minimale Nachkorrektur der Farben nötig, um identische Grauwerte für Rot, Grün und Blau zu erhalten (jeder Hersteller hat da seine eigenen Farbkurven).
Als erstes das RGB-Diagramm aus Kontrast und Auflösung für die Nikon D200 (siehe Bild 5): Bei Grün nimmt der Kontrast mit zunehmender Auflösung stetig ab, nahezu linear; bei Rot sackt er schon bei mittlerer Auflösung stark ab, und bei Blau nimmt er vorerst einmal zu (was vermutlich auf den Schärfungs-Algorithmus zurückzuführen ist) und fällt dann erst ab. Auch der Ausschnitt vom Nikon-Testbild (Bild 4) zeigt: Bei Rot wirkt das Zentrum vernebelt. Aus der Entfernung vom Zentrum (also dem Radius) lässt sich die Auflösung errechnen, und mit der Pipette in Photoshop lassen sich an den jeweiligen Bildorten die Grauwerte und damit der Kontrast messen. Bei der Canon EOS 20D (siehe Bild 6) sackt der Kontrast bei Rot außerordentlich schnell ab, aber hier nehmen Blau und auch Grün bei mittlerer Auflösung etwas zu.
Das Ergebnis zeigt ganz deutlich, dass bei Rot auf Schwarz zwar kein wesentlicher Unterschied in der absoluten Auflösung besteht, aber sehr wohl ein drastisch verminderter Kontrast. Das also ist der Grund für die verschmiert wirkende Schrift. Das gilt übrigens nur für JPEG-Dateien direkt aus der Kamera. Bei RAW-Dateien sieht es ganz anders aus, und – je nach verwendetem RAW-Converter – bekommt man verschiedene Ergebnisse. Meistens sieht der Kontrast für Rot dann viel besser aus als mit JPEG, aber es erscheinen dafür auch unschöne digitale Artefakte nahe der Auflösungsgrenze.
Das Rätsel ist also gelüftet: Digitalkameras können chinesische Schrift nicht gut leiden.
Nachtrag: Ein Leser hat (bei der Lektüre dieses Artikels) folgende Beobachtung gemacht: Man macht die zwei Bilder mit den Siemenssternen derart auf, dass sie hintereinander auf dem Bildschirm sind und man bei genau gleicher Position hin- und herschalten kann. Dann starrt man zunächst für ein paar Sekunden entspannt auf die drei farbigen Sterne, schaltet schnell um und beobachtet, wie die grauen Sterne für die ersten 1-2 Sekunden nicht grau erscheinen. Der linke Siemensstern erscheint leicht gelblich, der Mittlere leicht grünlich, und der Rechte leicht violett (also die Komplementärfarben des vorherigen Bildes). Erst nach ein paar Sekunden sieht das Auge die neutralen Grautöne. Des Rätsels Lösung: Vermutlich ein Effekt im Zusammenwirken von Auge und Hirn, nicht die Trägheit in den Zäpfchen der Netzhaut, dafür ist der Zeitraum von 1-2 Sekunden zu lang. Hat einer unserer Leser eine bessere Erklärung für das Phänomen?