Zeichen der Zeit
Neue Leica M8 führt das M-System ins digitale Zeitalter
2006-09-15 Frevel oder Apotheose? Konnte das legendäre M-System von Leica lange Zeit der Invasion der Elektronik widerstehen (die M5 mit ihrer integrierten Belichtungsmesszelle und die M6 mit ihrer TTL-Blitzmessung wurden schon vom erzkonservativen Teil der Leica-Kunden als "unechte" M-Kameras angesehen) und fanden bis heute manche Ausstattungsmerkmale moderner Kameras wie z. B. die Programmautomatik oder der Autofokus keinen Einzug in das M-System, führt die heute von Leica vorgestellte M8 das M-System endgültig ins digitale Zeitalter. (Yvan Boeres)
Zwar sucht man bei der M8 weiterhin vergeblich nach einer Programmautomatik und einem Autofokus (was auch gegen das Kamerakonzept bzw. die Markenphilosophie verstoßen würde), aber die Leica M8 wird wohl die "elektronischste" aller M-Kameras sein. Dass Leica den großen Umbruch wagen würde, ist schon seit einiger Zeit klar, und Leica selbst hat schon Anfang dieses Jahres (2006) erste Eckdaten und vorläufige Produktbilder der Kamera (damals noch unter dem Namen Leica M Digital) veröffentlicht, doch man musste bis heute warten, um alle Details zur digitalen Leica M zu erfahren.
Von Amateuren (im Sinne von "Liebhabern") und Profis (insbesondere von Reportagefotografen) vor allem wegen ihrer Diskretion, der legendären Qualität der M-Optiken und auch ihres Sucher- bzw. Bedienungskonzepts geschätzt, ist ein wahrhaftiger Kult um die Leica-Kameras der M-Serie entstanden, und viele der besten Fotos dieser Welt (geschossen von renommierten Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Sebastiao Salgado oder Magnum-Mitbegründer Robert Capa) sind mit einer "M" gemacht worden. Mit der M8 soll es sich wie mit einer "gewöhnlichen" Leica M fotografieren lassen – nur eben digital. Die Leica M8 entlarvt sich erst richtig als digitale Kamera, wenn sie sich von hinten zeigt. Der 6,3 cm große Bildschirm (2,5"-TFT-LCD mit 230.000 Bildpunkten) ist unübersehbar; die ihn flankierenden Funktionstasten und das Drehrad mit eingebetteten Navigationstasten (die Kombination von Drehrad und Steuerkreuz ist derzeit bei vielen Herstellern in Mode) deuten ebenfalls auf die digitale Natur hin. Leica-Kennern wird auch noch auffallen, dass die M8 keinen Spannhebel und keinen Rückspulknauf mehr besitzt. Stattdessen umgibt den Auslöser ein ringförmiger Schalter, mit dem die Kamera eingeschaltet und die "Schussfolge" ausgewählt wird (Einzelbildaufnahme, Serienbildaufnahme bis zu 10 Bildern in Folge bei einer Bildfrequenz von 2 Bildern pro Sekunde, Selbstauslöser mit 2 oder 12 Sekunden Vorlaufzeit). Im Auslöser ist übrigens in alter Tradition ein Gewinde für einen mechanischen Drahtauslöser eingefasst, während das Bildzählwerk nun nicht mehr mechanisch funktioniert, sondern von einer kleinen runden Flüssigkristallanzeige ersetzt wurde (die jetzt neben der verbleibenden Restbildzahl auch den Akkustand zeigt).
Scharfstellung, Bildkomposition und Belichtungseinstellung erfolgen jedoch nach wie vor in gewohnter Leica-M-Weise. Verschlusszeit und/oder Blende (die M8 bietet eine Zeitautomatik mit Blendenvorwahl an und kann natürlich auch komplett manuell arbeiten) werden über den Drehschalter auf der Gehäuseoberseite und den Blendenring am Objektiv eingestellt, während man die Scharfstellung und Bildkomposition über den hellen und kontrastreichen Messsucher vornimmt. Einspiegelbare Leuchtrahmen (für Brennweiten von umgerechnet 24 und 35 mm, 28 und 90 mm sowie 50 und 75 mm) zeigen im Sucher den zum Objektiv p
assenden Bildausschnitt an; bei der Scharfstellung hilft das Telemeter-System mit seiner Kombination aus Schnitt- und Mischbild-Entfernungsmesser. Da anders als bei Spiegelreflexsystemen nicht durch das Objektiv fokussiert wird, bleibt die Messbasis bzw. das Messfeld bei der M8 unabhängig vom Objektiv immer gleich groß und kontrastreich – was sich dann auch auf die Präzision der Scharfstellung auswirkt. Außerdem findet im Sucher ein automatischer Parallaxenausgleich statt, und man kann über den Bildfeldwähler die Bildwirkung einer anderen Brennweite simulieren; für Objektive mit Brennweiten von umgerechnet 16 bis 28 Millimeter bietet Leica einen optional erhältlichen Aufstecksucher (Leica Wide-Angle Viewfinder M) an.
Wer allerdings erwartet hatte, dass die digitale Leica M mit einem "Vollformat"-Sensor bzw. Bildwandler in Kleinbild-Größe (24 x 36 mm) daher kommen würde, wird enttäuscht. Der – laut Leica speziell für das Leica-M-System entwickelte – CCD-Senso
r der M8 hat eine Aufnahmefläche von 18 x 27 Millimetern, was zu einer 1,33-fachen Brennweitenverlängerung bzw. Bildwinkelverkleinerung führt. Zum Beispiel erfasst ein 21mm-Objektiv den von Kleinbild-Verhältnissen her bekannten Bildausschnitt nicht mehr vollständig, sondern "verwandelt" sich so praktisch in ein 28mm-Objektiv. Doch die Leuchtrahmen im Sucher helfen schon bei der Visualisierung des richtigen Bildausschnitts. Der CCD der M8 weist eine Nettoauflösung von rund 10,3 Millionen Pixeln auf, die zu 16-bit-RAW-Bildern mit einer maximalen Bildgröße von 3.916 x 2.634 Bildpunkten oder JPEG-Aufnahmen mit einer maximalen Bildgröße von 3.936 x 2.630 Bildpunkten weiterverarbeitet werden. Die Rohbilddaten werden dabei im herstellerübergreifenden bzw. "offenen" Adobe DNG-Format (Digital NeGative) gespeichert, und wer noch kein DNG-kompatibles (Bildverarbeitungs-)Programm besitzt, kann sich der populären Software Capture One LE von Phase One bedienen, die im Lieferumfang bzw. Preis der M8 enthalten ist.
Interessant ist die Tatsache, dass der CCD der M8 komplett auf einen Moiré- bzw. Tiefpassfilter verzichtet (die Störmuster werden elektronisch heraus-"gefiltert") und dass die Mikrolinsen im Randbereich des Sensors nicht deckungsgleich mit den Pixelelementen, sondern dort leicht versetzt angeordnet sind, um die stärker angewinkelten Lichtstrahlen nicht-telezentrischer Objektive genau auf die lichtempfindliche Fläche der einzelnen Pixel zu bündeln und somit so genannte "Corner Shading"-Effekte (in gewisser Wei
se Randabschattungseffekte) zu verhindern. Letzteres ist zwar nichts Besonderes (auch andere Hersteller machen von solchen Mikrolinsenanordnungen Gebrauch), aber Leica will wohl damit die hohen Qualitätsansprüche in seiner Pressemitteilung betonen. Zu den weiteren Eigenschaften des Bildwandlers gehört eine Grundempfindlichkeit von entspr. ISO 160 (das Signal kann bis auf entspr. ISO 2.500 verstärkt werden) und ein nur 0,5 Millimeter dünnes Deckglas zur Vermeidung von unerwünschten Lichtbrechungen bei schräg auftreffenden Lichtstrahlen. Auch lässt sich zum Entstauben des Sensors der Verschluss für die Dauer der Reinigung öffnen, so dass man mit dem geeigneten "Putzzeug" (so genannte Sensor-Swabs o. ä.) an den Sensor herangehen kann.
Wo schon das Stichwort "Verschluss" gefallen ist: Die M8 verwendet konstruktionsbedingt keinen Tuchverschluss mehr, sondern einen Metalllamellen-Schlitzverschluss wie Spiegelreflexkameras. Das wird wahrscheinlich den das ganz eigene Auslösegeräusch der bisherigen M-Modelle gewohnten "Leicaisten" nicht gefallen, aber mit dem neuen Verschlusstyp sind nun endlich extrem kurze Verschlusszeiten (bis zu 1/8.000 s im Normalbetrieb und bis zu 1/250 s im Blitzbetrieb) möglich. Und weil ein Stichwort zum nächsten führt, wären wir schon beim Thema Blitz angelangt. Dort gibt es nämlich auch eine wichtige Neuerung in Form der M-TTL-Blitztechnologie (erweiterte TTL-Blitzmessung mit Messvorblitz). Die Auto-Slow-Sync-Funktion wählt immer – eine den Lichtverhältnissen entsprechende – möglichst lange Blitzsynchronzeit bzw. Belichtungszeit unter Berücksichtigung des Verwacklungsrisikos aus (es wird einfach die Faustregel 1/Brennweite angewandt). Das ist auch eine der Funktionen, bei der die Kamera von der kürzlich von Leica angekündigten Objektivkodierung profitiert (eine bei fabrikneuen Objektiven serienmäßig aufgedruckte und bei alten Objektiven nachträglich aufbringbare 6bit-Punktkodierung ermöglicht die opto-elektronische Erkennung der Objektiv-Brennweite durch die Kamera). Auf die Objektivkodierung ist die M8 auch bei der kamerainternen Vignettierungskorrektur (Randabschattungen werden elektronisch herausgerechnet) und bei der Speicherung der Aufnahmedaten in den so genannten EXIF-Header der Bilddateien angewiesen.
Zu den weiteren Ausstattungsmerkmalen der Leica-M-untypischen Art gehören bei der M8 der Lithiumionenakku (3,7 V bei 1.900 mAh), die USB-2.0-Highspeed-Schnittstelle (über die die M8 bei Verwendung der mitgelieferten Leica-Digital-Capture-Software auch vom Computer aus gesteuert werden kann) und der Steckplatz für SD-Karten. An solche Funktionen wie u. a. das Tonwert-Histogramm, die Farbraum-Einstellung (Adobe RGB, sRGB, ECI RGB), die Weißabgleich-Parameter (Automatik, sechs Voreinstellungen, manueller Weißabgleich, direkte Farbtemperatureingabe) oder die grafische Hervorhebung überstrahlungsgefährdeter Bildteile im Wiedergabemodus werden sich alte Leica-M-Hasen auch gewöhnen müssen. Zumindest beim Preis, bei der Objektivkompatibilität (die M8 ist selbstverständlich mit allen bzw. den meisten M-Linsen kompatibel) und bei der Fertigungsqualität gibt es keinen Umstellungsbedarf. Mit einer unverbindlichen Preisempfehlung von 4.195 EUR für den Body bleibt der Anschaffungspreis für die M8 Leica-typisch "exklusiv", und die Montage und Justage (wie auch die Endkontrolle) der weitgehend aus Metall bestehenden (Deckklappe und Bodendeckel aus Messing, restliche Gehäuseteile aus einer Magnesium-Legierung) Kamera erfolgt – der offiziellen Pressemitteilung zufolge – in präziser Handarbeit im Leica-Werk Solms. Weitere Details zu Technik, Funktion und Ausstattung der 138,6 x 80,2 x 36,9 Millimetern kompakten M8 liefert, wie gewohnt, das entsprechende digitalkamera.de-Datenblatt. Die Leica M8 kommt im November dieses Jahres (2006) auf den Markt.